„Erste Spuren - letzte Bilder" - Kunst- und Gestaltungstherapie im Generationenbezug

Symposium 2022

30. September und 1. Oktober 2022

„Erste Spuren - letzte Bilder" - Kunst- und Gestaltungstherapie im Generationenbezug.
So titelte das Symposium des DAGTP e.V., das am 30. September und 1. Oktober 2022 in Berlin stattfand und das ca. 100 Kunsttherapeut:innen und am Thema Interessierte zu regem Austausch zusammenbrachte.
Doch welche Spuren sind gemeint, und was hat es mit den letzten Bildern auf sich?

Zunächst soll ein ganz eigenes Bild beschrieben werden: Eine mit Menschen gefüllte Aula an der Katholischen Hochschule Berlin - der Veranstaltungsort des zweitägigen Symposiums. Nach dreijähriger corona-bedingter Präsenzpause trafen sich Kunsttherapeut:innen des DAGTP e.V. und darüber hinaus erstmalig wieder, um miteinander fachliche „Spuren" zu reflektieren und mit eigenen Erfahrungs"bildern" anzureichern.
Dafür bot das gewählte Thema eine Bandbreite an Zugängen - gleichermaßen biografische und generationale: Denn wollte man das Wesen eines Menschen in einem großen Gemälde erfassen, fänden sich unzählige Bildergeschichten und Bilddetails, miteinander verwoben oder deutlich voneinander abgegrenzt. Entstanden aus den unterschiedlichsten Materialien, die für sich und miteinander kombiniert immer wieder andere Gemäldeschichten und Abschnitte hervorbringen. Darin mehr oder weniger erkenntlich und sichtbar Anfänge und Abbrüche, alte und neuere Anteile - erste Spuren und letzte Bilder.

Eindrücklich wusste Frau Gabriela Walterspiel, Lehrtherapeutin des DAGTP e.V., diese Metapherreise zu eröffnen, als sie ihre Erfahrungen mit den Kindern geflüchteter Familien in einem wöchentlichen Malprojekt reflektierte. Die Begegnungen mit den immer wieder Aufmerksamkeit und Zuwendung fordernden Kindern, angefüllt mit den „unverdauten" existentiellen Flucht- und Entbehrungserfahrungen ihrer Familien, verweisen zunächst auf die Notwendigkeit einer geeigneten Arbeitsstruktur - einem Rahmen, der all die bedrohliche seelische Gemengelage der Kinder zu halten vermag. Gleichzeitig geht es darum, inneres „Verdauen" und Reifen neuer Lebensfähigkeiten zu unterstützen. Keine leichte Herausforderung, weil die „ersten Spuren" - die ersten Lebenserfahrungen der Kinder - so wirkmächtig sind.

Davon erfuhren die Teilnehmer:innen auch in der Beschreibung eines besonderen Projekts mit polnischen und deutschen Jugendlichen in der internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz. Prof. Thomas Staroszynski stellte seine Arbeit als Kunsttherapeut in diesem Projekt vor, das der transgenerationalen Wirkmächtigkeit von Lebensspuren nachgeht: Was bedeuten jungen Menschen die unerträglichen Erfahrungen und Leiden der Vernichtung von Millionen jüdischer Familien durch die Nazis? Wie nähern sie sich dem an, wie verarbeiten sie es?
Mit großer haptischer Hingabe gestalten die sehbehinderten und zum Teil blinden Jugendlichen während der Projekttage Bilder und Skulpturen, verdichtet mit eigenen geschriebenen Texten.

Um die Arbeit an inneren Spuren und Bildern mit Jugendlichen ging es auch in den Ausführungen von Frau Dr. rer. soc. Begga Hölz-Lindau, die an einem klinischen Fallbeispiel mit einem Jugendlichen, den haptischen Gestaltbildungsprozess in der kunsttherapeutischen Arbeit mit Ton vorstellte und dabei besonders Augenmerk auf den Symbolisierungsprozess als erste (be-)greifbare Spur in der frühkindlichen Entwicklung legte.

Bleibt man in Anlehnung an den Lebenslauf des Menschen chronologisch, widmete sich ein weiterer Vortrag einer bestimmten Gruppe von Erwachsenen - politisch verfolgte und inhaftierte Kritiker:innen des DDR-Regimes. Dr. Karl-Heinz Bomberg ging der Frage nach, welche Folgen die politische Haft von Frauen und Männern in der DDR für deren Kinder hat. Dass diese unter anderen träumen, was sie selbst gar nicht erlebt haben, weist auf ein besonderes transgenerationales Phänomen hin, das erst in letzter Zeit wissenschaftlich erforscht wird. Dr. Bomberg wies darauf hin, dass der Bedarf therapeutischer Unterstützung der Betroffenen wächst, wenn und weil die biologischen Abwehrkräfte (Gesundheit) nachlassen und die soziologische Abwehrkraft „Arbeit" wegfällt.

Auf die Lebens- und Wirkmächtigkeit von Großeltern im Mehrgenerationenkontext wies Prof. Dr. phil. Günter Reich hin. Dabei geht es sowohl um deren Lebenserfahrungen und häufig unverarbeitete -erschütterungen als auch deren aktuelles Interagieren in den unterschiedlichsten familiären Konstellationen. Es lassen sich verschiedene klinische „Typen" von Großeltern - konstante, vielbeschäftigte, unzuverlässige, pflegebedürftige, spaltende, untergrabene, narzisstisch selbstbezogene und fordernde - unterscheiden, aus denen sich spezifische Indikationen zu deren Einbeziehung in Familientherapien und -beratung ergeben.

Es sind besondere letzte Bilder, die entstehen, wenn Nathalie Danja Streit, intermediale Kunsttherapeutin, junge und alte Menschen in einem fototherapeutischen Projekt zusammenführt. Dann sind Fotos Mittler und Vermittler zwischen den Generationen. Dann werden alte Bilder hervorgeholt, behütete Schätze in den alten Alben und Kisten der Senior:innen. Dann bringen junge Menschen aktuelle Fotos ihres Lebensalltags mit. Dann wird gesprochen. Sehr lebendig. So zumindest brachte Frau Streit ihre fototherapeutische Arbeit nahe. Und sie machte deutlich, welche Langzeitwirkung Bilder haben, die sich Menschen in einer langen, ganz individuellen Lebenszeit einverleiben.

Neben diesen sehr aufschlussreichen Vorträgen stellte das Symposium in zweiter bewährter Weise seine kunsttherapeutische Vielfältigkeit und Praxisbezogenheit unter Beweis:
Sechs Workshops luden zu thematischen Vertiefungen und Erprobungen mit u.a. folgenden Fragen ein:

  • Wie trauern Kinder?
  • Welche Wirkmächtigkeit haben beliebte Comic und Märchenfiguren in kunsttherapeutischen Prozessen?
  • Wie lassen sich natürliche Umwelten - der Park, der See, ein Wald u.ä. - für die kunsttherapeutische Arbeit nutzen?
  • Welche Chancen bieten familiäre Interaktionen in Familienbildern in der Kunsttherapie?
  • Welche individuellen Spuren stecken in initialen Sandbildern?
  • Wie unterstützen Kunsttherapeut:innen die Potenziale der ungebändigten kindlichen Bildkraft in den Gestaltungen von erfahrenen und gereiften alten Menschen?

Ein Symposium mit einer Fülle an neuen, anderen, verheißungsvollen, nachdenklichen und ermutigenden Bildern ging so zu Ende und hat gewiss ganz eigene Spuren gelegt, die für die kunsttherapeutische Arbeit nützen und deren Professionalität befördern.
DANKE dafür an alle Mitwirkenden und Teilnehmer:innen.

Wir freuen uns auf ein Wiedersehen am 14. Oktober 2023

(Bettina Albrecht, Vorstand des DAGTP e.V.)

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